Ist da noch frei, eh?

Nürnberg Hauptbahnhof. Der Zug nach Berlin fährt ein und ich ergattere einen Platz 1. Klasse in einem Sechserabteil. Nur eine junge Frau sitzt schon da und beschäftigt sich intensiv mit ihrem Tablet. Mein 14-Kilokoffer muss leider stehen bleiben, so stark bin i nimmer, dass ich ihn auf die Gepäckablage hieven kann. Der Zug fährt schon an, als es auf einmal sehr lebendig wird: zwei junge Männer, deutlich unter 30, entern unsere Beschaulichkeit. Typ 1, blonder Nachwuchsdeutscher, schlaksig, schwarze Kunstlederjacke, intakte Jogginghose. Spricht nicht, schaut freundlich, netter Kumpel. Sein zusammengeklappter Riesenroller wird uns die nächsten zwei Stunden lang im Weg sein. Typ 2, der Alpha in dem Zweiergespann. Migrationsvordergrund. Hoodie, offen getragen, darunter nichts als gut gebräunte Hühnerbrust, Kaputze und ein an der Hand festgewachsenes Handy. Jeans mit Löchern.  Papiersack voll mit Bierflascherln.

„Ist da noch frei, eh???“ fragt Kaputze.

Ich: „Ähm, ja, klar,  aber ich weiß nicht…  ist erste Klasse.. “

Kaputze grinst zufrieden, wuchtet meinen Koffer nach oben und öffnet noch im Hinsetzen das erste Bier. Ich denke mir, das könnte ein Blogbeitrag werden. Kumpel schläft nach 7 Sekunden und Kaputze beginnt auf sein Handy einzureden. Blitzartig taucht der Schaffner auf und siehe da, Kumpel und Kaputze haben tatsächlich 1. Klasse gebucht. Ich schäme mich ein bisschen. 

Bier 2 wird mit Hilfe von Bier 3 geöffnet (spannende Technik!) und prompt fällt eine Flasche in den Sack zurück, lauwarme Bierspritzer zischen durch’s Abteil, ich habe Glück und bleibe verschont (die Tablet-Dame hat uns derweilen schon verlassen gehabt). Fuck! schreit Kaputze und weckt Kumpel auf. Interessanterweise nennen sich die beiden gegenseitig Dicker, was eher wie Digger klingt. Sorgfältig wird unsere Bleibe gesäubert, als Belohnung dürstet es Kaputze nach Bier Nr. 3 und einem Kaffee. Er fängt den Schaffner herunter und ordert. Nicht ohne für mich mitzubestellen. Die ehrenvolle Aufgabe, unsere drei Kaffees zu bezahlen,  wird an Kumpel delegiert, das Wechselgeld wiederum kassiert Kaputze, der beginnt, sich für mich zu interessieren. 

Wo ich denn herkomme? Graz. Aha, stellt er fest, also fährst du nach Hause (mit dem Zug nach Hamburg :-). Nächste Frage. Wo ist dein Mann, eh?  Oder hast du keinen? Ich schäme mich schon wieder, so unbemannt zu sein geht offenbar gar nicht, also lüge ich ihm was vor. Kaputze ist’s zufrieden und bereit für meine Gegenfragen. 

Eigentlich sind sie auf Montage,  fahren nur zum Chef Geld holen. Bevor ich das Thema vertiefen kann, betreten drei junge Frauen unser Reich. Sofort wird es ganz still. Trauriges Schweigen bis Halle, wo alle fünf sich zum Ausstieg bereit machen. Da passiert plötzlich Unerwartetes: eine der jungen Damen zückt eine Visitenkarte und hält sie Kumpel unter die Nase. Vielleicht magst mir mal auf Insta schreiben, fragt sie. Kumpel reagiert panisch und total abweisend. Sie zuckt mit den Schultern und verschwindet Richtungen Ausgang. Die beiden Männer sehen mich hilflos an: was will die, was hatte sie da? Ich erkläre, wie Kontaktaufnahme zwischen Mann und Frau…  Kaputze schreit Kumpel an, geh, renn ihr nach, Oida, das ist deine Chance, du Jungfrau. Die „Jungfrau “ reagiert erwartungsgemäß:  lass mich in Ruhe, ich hau dir in die Fresse, eh! Kaputze stürmt davon, um sich heldenhaft und unbedankt für seinen Freund ins Zeug zu schmeißen. Warte, brüllt er dem Mädchen nach, und ward nie wieder gesehen. 

Kumpel seufzt resignierend, rafft schnell alle Habseligkeiten samt Roller zusammen und sagt zum Abschied zu mir: Auf Wiedersehen, schöne Frau.  

In einem Großraumwaggon wäre mir das nicht passiert.  Ich hasse Großraumwaggone. 

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